Das Ei des KolumGlobus

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Die Handelskette GLOBUS wirbt mit ihrem neuen Eiersortiment im Internet:

http://www.globus.de/de/magazin/nachgefragt/ein_ei_wie_das_andere_/ein_ei_wie_das_andere_.html

(Anmerkung: Die Seite wurde vom Betreiber leider entfernt)

Aufgefallen wäre mir diese Strategie eigentlich nicht, wenn ich nicht über Wochen das Fehlen von Freiland- Eiern in dem Markt meines Vertrauens vermisst hätte. Statt der Freilandeier wurde seit April dieses Jahres eine neue Packung Eier ins Sortiment aufgenommen.

http://www.globus.de/de/magazin/nachgefragt/ein_ei_wie_das_andere_/ein_ei_wie_das_andere_.html
http://www.globus.de/de/magazin/nachgefragt/ein_ei_wie_das_andere_/ein_ei_wie_das_andere_.html

Es handelt sich um Bodenhaltungs- Eier mit dem Siegel „Tierschutz geprüft

Die Erklärung hierfür findet man ebenfalls auf der Internetpräsenz von GLOBUS:

Tierschutz geprüft

Das Siegel „Tierschutz geprüft“ hat der KAT gemeinsam mit den deutschen Tierschutzorganisationen „Deutscher Tierschutzbund e.V.“, „Bundesverband Tierschutz e.V.“ und „Bund gegen den Missbrauch der Tiere e.V.“ entwickelt. Die Anforderungen an das Halten von Legehennen gehen sogar noch über den KAT-Standard hinaus. Ziel ist eine besonders artgerechte Haltung für Legehennen in Boden- und Freilandbetrieben. So liegt beispielsweise die Gruppengröße dieser Haltungsform bei nur 1.500 Hennen. Das Kürzen der Schnäbel ist verboten und die Hühner erhalten hochwertiges Futter ohne Gentechnik.

Mir bekannte Tierschutzaktivisten betrachten dieses Siegel mit Skepsis. Im Grunde ist es ein Widerspruch, Betrieben mit Legehennen in Bodenhaltung ein Tierschutz- Siegel zu zugestehen. Insbesondere, wenn Eier aus Freilandhaltung jenes Siegel nicht tragen, beschleicht mich der Verdacht, dass man hier einen gehobenen Standard suggeriert, dem diese Art der Tierhaltung gar nicht gerecht werden kann.

Der Verweis auf eine Gruppengröße von 1500 Hennen hat keinerlei Aussagekraft, wenn die Angabe des Areals, auf welchem sich die Tiere frei bewegen können, fehlt.

Das Kürzen der Schnäbel ist im Grunde verboten und keineswegs ein hervorzuhebendes Merkmal eines Siegels, welches den Tierschutz hervorheben soll. Die Albert- Schweitzer- Stiftung erklärt es folgendermaßen:

Aus tierschutzrechtlicher Sicht ist das Schnabelkürzen nur in Ausnahmefällen erlaubt. Das bedeutet, dass alle Fälle geprüft werden müssen. Erst dann, wenn es keine Alternativen zum Schnabelkürzen gibt, dürfen Ausnahmegenehmigungen erteilt werden. In der Praxis werden die Ausnahmegenehmigungen aber immer und ohne jede Nachfrage erteilt. Damit befindet sich der Tierschutz (mal wieder) in einer Situation, in der er um gesetzeskonforme Bedingungen kämpfen muss.

Quelle: http://albert-schweitzer-stiftung.de/kampagnen/schnabelkuerzen-beenden

Des Weiteren wird diese Prozedur so charakterisiert:

Das Schnabelkürzen ist eine Prozedur, die bei praktisch allen Küken vorgenommen wird, die später als Legehennen in Boden- und Freilandhaltungen Eier legen müssen. Die mit Nerven durchsetzten Schnabelspitzen werden dabei mit einer heißen Klinge oder einem Laser abgetrennt, um zu vermeiden, dass die Hennen sich später gegenseitig verletzen oder gar töten.

Das Schnabelkürzen ist ein typisches Symptom der Massentierhaltung: Die Tiere werden den schlechten Haltungsbedingungen angepasst, anstatt die Haltungsbedingungen den Tieren anzupassen. Wären die Bedingungen nicht so schlecht und weniger stressverursachend, würden die Verhaltensstörungen Federpicken und Kannibalismus gar nicht erst entstehen.

Auch der Hinweis, dass keine genmanipulierten Futtermittel verwendet werden, ist reine Makulatur. Der Anbau von genmanipulierten Futtermitteln ist bislang in der EU verboten. Leider existiert eine Gesetzeslücke, die es eben nicht verhindert, dass solche Futtermittel importiert und verfüttert werden. Es gelangen somit quasi durch die Hintertür gentechnisch veränderte Substanzen in den Nahrungskreislauf.

Genau genommen besitzt also dieses Siegel keine besonderen oder gar erwähnenswert höheren Standards als die übliche Bodenhaltung. Man grenzt sich, wenn man es so ausdrücken möchte, lediglich gegen noch schlimmere Zustände in der Tierhaltung ab.

Alle Beteiligten an dieser Siegelvergabe habe ich um eine Stellungnahme gebeten. Darauf bin ich gespannt…

Update vom 30. Mai 2014:

Statement vom Bundesministerium für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit:

Das BVL hat bei der Vergabe von Siegeln und der Überwachung der Einhaltung der zugrunde liegenden Richtlinien keinerlei Zuständigkeiten. Über die Aufgaben unseres Hauses können Sie sich hier informieren:
http://www.bvl.bund.de
Von daher habe ich Ihre Anfrage lediglich zur Kenntnis genommen und hoffe, dass Ihnen die zuständigen, ebenfalls adressierten Stellen entsprechend antworten.

Das war ziemlich ernüchternd.

Vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft klingt es so:

Hierzu können wir Ihnen leider keine Auskunft geben, da es sich nicht um ein staatlich geprüftes Siegel, sondern um einen privatwirtschaftlichen Tierschutzstandard handelt.

Inhaber und Träger eines Zeichens sind im allgemeinen eingetragene Vereine, die die fachlichen Anforderungen und Vergabekriterien entwickeln. Nur wenige Produktsiegel, Qualitätssiegel und -logos basieren auf einer rechtlichen Grundlage, wie etwa das EU-Bio-Logo. Für die Nutzung eines Siegels unterziehen Hersteller ihre Produkte oder Dienstleistungen freiwillig einer zuvor definierten Prüfung oder verpflichten sich zu bestimmten überprüfbaren Herstellungsprozessmethoden oder Leistungen.

Eier mit dem Siegel „Tierschutz geprüft“ sind bereits seit 2008 im Handel erhältlich.

Für weitere Fragen wenden Sie sich bitte an die Initiatoren des Siegels bzw. an die von Ihnen genannte Handelskette.

Ich hoffe, dass ich Ihnen hiermit weiterhelfen konnte.

Meine Befürchtungen nehmen immer konkretere Formen an. Demnach besitzt dieses Siegel keinerlei Aussagekraft und die Standards, denen sich die „Siegel“- Nutzer unterwerfen, werden von ihnen selbst definiert bzw. lassen sie sich von einer angeblich unabhängigen Institution festlegen, die dafür von den Auftraggebern, welche wiederum die „Siegel“- Nutzer selbst sind, honoriert werden…

Eine Antwort auf Ihre Mail befindet sich derzeit in einer internen Abstimmung. Wir bitten daher um etwas Geduld.

Dieses Statement stammt vom Bund gegen Missbrauch der Tiere e.V., einer jener Organisationen, die dieses Siegel verliehen haben. Es ist erstaunlich, dass man sich über eine so simple Nachfrage intern abstimmen muss. Da bin ich erneut gespannt…

Update vom 10. Juni 2014:

Die Antwort der Verbraucherzentrale Saar kam am 5. Juni 2014:

…das Problem bei privaten Labeln, oder eigentlich bei allen Labeln ist, dass nur der Verbraucher eigentlich genau aufgeklärt wird, der sich über die Bedingungen und die Kontrolle der jeweiligen Label genauer informiert. Das ist für schon recht viele Label über „labelonline.de“ möglich. „Tierschutz geprüft“ habe ich allerdings noch nicht darunter gefunden. Das könnte man anregen.

Heute sind Labels zu einem wichtigen Marketinginstrument für Hersteller und Lebensmittelkonzerne geworden. Und sie wirken absatzfördernd, das hat Wiso im Januar noch einmal in einem Test nachgewiesen (http://www.zdf.de/wiso/lebensmittel-label-siegel-supermarkt-bio-31473216.html ) .Verboten sind sie nicht, solange sie nicht gegen geltendes Recht verstoßen.
Das Label „Tierschutz geprüft“ kann natürlich auf den ersten Blick den Eindruck erwecken, dass besonders hohe Tierschutzstandards eingehalten werden. Tatsächlich liegt die Tierhaltung zwar über dem gesetzlich vorgeschriebenen, aber ist eben nicht mit der Freilandhaltung bei Geflügel vergleichbar. Hier muss der Verbraucher auch auf die gesetzlich vorgeschriebene Kennzeichnung achten, die eindeutig auf die Haltungsform hinweist. Dass der Handel jetzt Freilandhaltungs-Eier im Angebot reduziert, ist natürlich sehr bedauerlich. Ein Protest beim Handel selbst könnte Wirkung zeigen, am besten natürlich die eindeutige Kaufentscheidung von Freilandhaltungseiern durch die Verbraucher, die sich ja zunehmend für diese Haltungsform entscheiden.

Einiges an Feedback wurde ja geliefert, aber kurioserweise nicht von den Verantwortlichen für dieses Siegel. Keine Antwort ist bekanntermaßen auch eine Antwort und somit schlussfolgere ich, dass meine Vermutungen im Allgemeinen korrekt sind. Vom Verbraucherschutz Saar wird zudem eine weitreichende Ohnmacht der Verbraucher gegenüber den Lebensmittelkonzernen attestiert. Auch erkennt man in gewisser Weise eklatante Versäumnisse der zuständigen Behörden. Muss man denn tatsächlich immer die Medien einschalten, dass Missstände aufgedeckt und gegebenenfalls beseitigt werden?

Update vom 13. Juni 2014:

Diesmal muss ich aus dem Gedächtnisprotokoll heraus den Leiter der Qualitätssicherung der Handelskette GLOBUS zitieren, mit welchem ich über dieses Thema telefonierte:

Es ist eine ökonomische wie ökologische Gratwanderung, Erzeugerbetriebe zu finden bzw. davon zu überzeugen, im Sinne des Tierschutzes die Haltung der Tiere an höhere Standards anzupassen. Das Label „Tierschutz geprüft“ ist einzigartig in Deutschland und wird ausschließlich von GLOBUS verwendet. Insbesondere das Schnabelkürzen ist ein wesentliches Kriterium, welches von GLOBUS nicht akzeptiert wird. Bei der Mengenangabe von 1500 Tieren ist einzuräumen, dass ein Parameter zur Flächenangabe fehlt. Es handelt sich um die gleiche Fläche, welche ansonsten für 3000 Tiere zur Verfügung steht. Diese Passage wird nach unserem Telefonat entsprechend angepasst, damit die Aussage auch verständlich für den Verbraucher wird. Ohne diesen zusätzlichen Parameter bleibt die Aussage nämlich weitgehend sinnlos.

Tatsächlich gibt es Erfolge, zum Beispiel bei Masthühnchen, die GLOBUS im eigenen Sortiment anbietet, die trotz eines höheren Preises ein Erfolgsschlager seien. Die höheren Qualitätsstandards schlagen sich hierbei im Geschmack nieder, was der Kunde toleriert. Hierbei ist zu erwähnen, dass bei diesen Masthühnern auf die permante Behandlung von Antibiotika verzichtet wird und die Mastdauer deutlich länger ist.

Bei allen Anstrengungen, die GLOBUS unternimmt, um höhere Qualitätsstandards durchzuringen, gelingt das nur mühselig in kleinen Schritten und auch manchmal mit Rückschlägen, wie beispielsweise bei der Verwendung von genmanipulierten Futtermitteln. GLOBUS übt zwar einigen Einfluss auf die Erzeugerbetriebe aus, muss sich jedoch auch am Markt gegenüber der Konkurrenz in der eigenen Branche behaupten können.

Der Verbraucher besitzt letztendlich die Macht über die Haltungsform der Tiere. Ein konsequenter Boykott von Eiern aus Boden- oder gar Käfighaltung, wäre ein erster Beitrag, die Erzeugerbetriebe empfindlich zu treffen, wo es ihnen weh tut, am eigenen Profit. Wenn man in einem weiteren Schritt auch noch die Massentierhaltung boykottieren würde, welche ja Ursache für den Einsatz von Antibiotika und das grauenvolle Schnabelkürzen verantwortlich ist, könnte man auf diese Weise die Zuchtbetriebe zu höheren und besseren Standards zwingen. Da regt man sich einerseits über „Chlorhühnchen“ auf, während man andererseits Eier oder gar Hühnchen verspeist, deren Antibiotika- Restmenge ausreichen würde, ohne zusätzliche Medikamente einen mittelschweren grippalen Infekt auszukurieren, sofern die Erreger nicht längst resistent geworden wären.

Update vom 16. Juni 2014:

So sieht eine Maßgabe für einen Betrieb der Eierwirtschaft mit bereits gehobenen Standards aus, der das Label „Tierschutz geprüft“ verwenden darf:

Die Besatzdichte beträgt 7 Hennen/m2 nutzbare Fläche. Es dürfen maximal 9.000 Hennen pro Stall (eine Altersgruppe) gehalten werden, eine Gruppengröße von maximal 1.500 Tieren ist obligatorisch. Bei mehretagigen Systemen darf die Besatzdichte insgesamt 14 Hennen/m² der von den Tieren nutzbaren Stallgrundfläche nicht überschreiten. Maximal 3 Stallungen à 9.000 Tiere gelten als ein Legebetrieb.

Quelle: http://www.was-steht-auf-dem-ei.de/fileadmin/PDF/Leitfaden/e_Ltf._fuer_KAT_Legebetriebe_Oktober_2013.pdf

Nach einem Telefonat mit dem Geschäftsführer von KAT (Vereins für kontrollierte alternative Tierhaltungsformen e.V) scheint sich zu bestätigen, dass die „Politik“ unbedingt und unmissverständlich tätig werden sollte. 

 

Bestrebungen, den Tierschutzstandard zu erhöhen, scheitern daran, dass der Wirtschaftlichkeit einen so hohen Stellenwert von den politischen Entscheidungsträgern zugesprochen wird, dass beispielsweise das Schnabelkürzen, welches eigentlich nur eine Ausnahme sein sollte, problemlos genehmigt wird. Es wird quasi die Lizenz zur Tierquälerei behördlicherseits ausgestellt. Im folgenden Bild wird der Lebensraum einer Legehenne maßstabsgetrau dargestellt:

hennenplatz

Das ist bereits der gehobene Standard, der für das Label „Tierschutz geprüft“ definiert wurde. 9 ausgewachsene Hennen auf einem Quatratmeter…

 

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Gedanken und Statements zur Wahl

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Am Sonntag ist es mal wieder so weit. Wir sind aufgerufen, unser Wahlrecht auszuüben, in manchen Landkreisen parallel zur Europawahl auch auf kommunaler Ebene. Im Grunde bedeutet das, die Alibi-Funktion unserer repräsentativen Demokratie zu aktivieren, damit wir uns in den nächsten paar Jahren der wohltuenden Illusion hingeben können, Einfluss auf die Politik unserer Kommunen ausgeübt zu haben. Und – Trommelwirbel und Fanfarenklang – sogar auf die Politik Europas.

Doch zuerst einmal zu den Begrifflichkeiten. Eine repräsentative Demokratie wie die unsere zeichnet sich dadurch aus, dass der Souverän „Wähler“ in regelmäßigen Abständen seine Stimme abgibt. Nach Auszählung der Stimmen steht dann fest, welche Partei zukünftig wie viel Einfluss auf das politische Geschehen haben wird. Im Grunde klingt das ganz gut – zumindest, wenn man sich darauf verlassen könnte, dass Wahlversprechen auch eingehalten werden.

Der negative Nebeneffekt ist allerdings, dass der Wähler nach der Stimmabgabe keinerlei Einfluss mehr darauf hat, welche Politik in seinem Namen gemacht wird. Einzige direkte Einflussmöglichkeit ist in einer repräsentativen Demokratie nämlich der Lobbyismus. Und diese Möglichkeit wird von Finanz- und Wirtschaftsunternehmen auch gern und vor allem oft genutzt. Dem Souverän „Wähler“ steht sie allerdings nicht zur Verfügung. Und von Seiten diverser Politiker ließ man diesbezüglich bereits des Öfteren verlauten, dass eben dieser Souverän – ihr Arbeitgeber also – auch zukünftig nicht in der Lage sein soll, direkteren Einfluss auf das zu nehmen, was man in seinem Namen beschließt und durchführt.

Direkte Demokratie ist nicht erwünscht.

Darüber kann man nun denken, was man will. Ich persönlich zöge es allerdings schon vor, mich in solchen Angelegenheiten wie z.B. den diversen Freihandelsabkommen an den Entscheidungen zu beteiligen. Denn immerhin muss ich ja auch mit den Auswirkungen leben.

Aber kehren wir noch einmal zurück zur repräsentativen Demokratie. Und stellen wir uns die grundlegende Frage: Kann sie überhaupt funktionieren?

Die Antwort ist einfach. Ja. Sie kann. Allerdings nur dann, wenn die gewählte Regierung konsequent und ausschließlich die Interessen der Wähler vertritt. Und das bedeutet im Umkehrschluss, dass es weder Lobbyismus geben dürfte, noch irgendwelche Hinterzimmerpolitik. Dass Politiker grundsätzlich nicht in Aufsichtsräten von Finanz- oder Wirtschaftsunternehmen sitzen dürften und Politikerkorruption hart geahndet werden müsste. Und dass die Medien als „vierte Macht im Staate“ die Aufgabe erfüllen müssten, jedweden Verstoß gegen diese Regeln aufzudecken und gnadenlos anzuprangern, statt diese zu begünstigen und sich sogar daran zu beteiligen. Denn sonst ist eine repräsentative Demokratie nichts als eine gut verpackte und clever vermarktete Lüge. Womit wir wieder bei der Alibi-Funktion der Wahlen wären.

Werfen wir doch einen kritischen Blick auf das, was dort zur Auswahl steht:

Spielen Grundsätze und Programmatik überhaupt noch eine Rolle?

Zunächst einmal haben wir da die Herrschaften zweier Parteien, die sich „christlich“ nennen. Den Unterschied zwischen „sozial“ und „demokratisch“ halte ich dabei für relativ geringfügig, zumal ich persönlich mittlerweile immer mehr den Eindruck gewinne, dass man in diesen Kreisen die Bibel schon vor einiger Zeit weggeschlossen hat und nun auf diverse Freihandelsabkommen schwört, die weder das eine noch das andere symbolisieren. Ich halte diese Art von Politik für nicht sonderlich glaubwürdig.

Die zweite Option ist eine Partei, deren Vorsitzender vor der letzten Bundestagswahl noch ausdrücklich betonte, dass man keine genmanipulierten Lebensmittel wolle. Laut, deutlich und sehr pathetisch. Als Mitglied der GroKo sieht man das jetzt aber völlig anders. Jetzt sind eben diesem Herrn die voraussichtlichen 0,5 Prozent Wirtschaftswachstum offenbar jedes Opfer der Wähler wert. Da spielen sich „vor der Wahl“ und „nach der Wahl“ nicht einmal im gleichen Universum ab. Die gleiche Partei stellt übrigens auch unseren Außenminister, einen Mann, der in Kiew in aller Öffentlichkeit die Hände von Faschisten schüttelt und deren Gegner als Separatisten verunglimpft. Meiner Meinung nach ist beides nicht sonderlich Vertrauen erweckend.

Dann gibt es da noch eine Partei, die alles verraten hat, wofür sie einstmals stand, indem sie dazu übergegangen ist, wie ihre Kollegen aus den vorstehenden Beispielen für verantwortungslose Politik, Auslandseinsätze der Bundeswehr zu befürworten. Offenbar hält man in deren Reihen seit einiger Zeit das Blut unschuldiger Zivilisten oder radioaktiven Fallout für Naturdünger. Das ist in meinen Augen absolut nicht hinnehmbar.

Über die Herrschaften von weiter rechts und rechts außen lasse ich mich gar nicht erst aus. Ich bin für eine tatsächlich funktionierende Demokratie. Noch totalitäreren Müll als bisher müssen wir uns nun wirklich nicht antun. Und jenen, die man womöglich mit dem „Migrantenproblem“ geködert hat, möchte ich an dieser Stelle mal ein paar logische Gedankengänge nahelegen. Solange wir selbst nämlich im Interesse des eigenen Wohlstands über unsere Militär- und Wirtschaftsbündnisse dazu beitragen, in anderen Ländern Kriege zu führen oder deren Wirtschaft so zu beeinträchtigen, dass dort große Teile der Bevölkerung verelenden, dürfen wir uns wohl kaum über die Kehrseite dieser Medaille beklagen. Wie in jedem anderen Fall gilt auch hier: Die Ursachen des Problems müssen beseitigt werden. Stattdessen einfach etwas gegen die Symptome zu unternehmen wäre lediglich Make up und völlig verantwortungslos.

Ganz ehrlich? Für mich persönlich sehe ich nach all den obigen Betrachtungen nicht mehr sonderlich viel Auswahl.

Das große Schweigen

Aber unabhängig davon, wie jeder einzelne sich am Sonntag entscheidet, ist Fakt, dass unsere Demokratie schrittweise immer weiter demontiert wird. Fremde Interessen werden inzwischen ganz offen über die der Wähler gestellt. Und wir unternehmen nichts dagegen. Wir schweigen dazu. Ich sehe es jeden Tag.

Zugegeben, es ist eigentlich kein richtiges Schweigen. Nein, gemeckert wird wie immer überall. Im Supermarkt über die Lebensmittelpreise. Auf der Post über das Porto. An der Tankstelle über die Treibstoffpreise. An jedem einzelnen dieser Orte über das niedrige Einkommen allgemein, die niedrigen Löhne im Besonderen und natürlich über die KoBa, was in dem Landkreis, in dem ich zu Hause bin, die Entsprechung der Arge ist.

Und über die Politik regt sich nun wirklich jeder auf. Darüber, dass „die da oben“ einfach „machen, was sie wollen“.

Wir alle schweigen verdammt laut, wenn ich das mal so sagen darf.

Aber was ist es anderes als Schweigen, wenn ich meinen Unmut zwar kundtue, aber an der falschen Stelle? Was kann die Kassiererin im Supermarkt an den Schikanen von Hartz 4 ändern? Welchen Einfluss hat die Frau bei der Post auf die Benzinpreise? Oder der Verkäufer an der Tankstelle auf das Lohngefüge, insbesondere den Billiglohnsektor? Und ist es nicht merkwürdig, dass irgendwie alle der gleichen Meinung sind, aber immer nur hinter der vorgehaltenen Hand?

Unser Land ist zur „Schweigenden Republik“ geworden.

Ist es da ein Wunder, dass man uns mittlerweile für obrigkeitshörig und feige hält? Verhalten wir uns nicht genau so? Jeder sieht die Probleme um sich herum. Jeder kennt mindestens eine Person, wenn nicht gar mehrere, die hart darum kämpfen müssen, um wenigstens einigermaßen über die Runden zu kommen, oder ist sogar selbst von den Schwächen unseres Systems betroffen. Aber wenn man etwas dazu sagt, dann entweder hinter verschlossener Türe, aus der eingebildeten Anonymität eines Facebook-Accounts mit einem niedlichen Fantasienamen heraus oder nur zu anderen Menschen, die an genau derselben die Demokratie immer weiter zersetzenden Artikulationsstörung leiden. Und wenn es gar darum geht, etwas zu tun, aktiv zu werden, ist es ganz vorbei. Die meisten warten darauf, dass jemand kommt, der es für sie tut. Der sich für sie einsetzt. Der es ihnen schön und bequem macht, so dass sie sich nicht selbst bewegen, geschweige denn äußern müssen.

Jemand, der den Kopf für sie hinhält.

Findet sich tatsächlich ein solcher Jemand, so wird höflich Beifall gespendet, aber natürlich möglichst dezent, denn auch dabei will man ja nicht auffallen. Oder er wird in der Luft zerrissen, weil er es nicht genau so macht, wie der Untätige sich vorstellt, dass es gemacht werden sollte. Und wenn derjenige dann womöglich scheitert – weil einer allein eben nichts bewegen kann – dann wird entweder bedauernd oder gar schadenfroh mit den Achseln gezuckt. Und hinterher beschweren sich wieder alle, weil alles beim Alten ist.

Weil „die da oben“ noch immer „machen, was sie wollen“.

Und was in meinen Augen das Schlimmste ist: Als Folge des Achselzuckens beim Scheitern des armen Alleingelassenen bleibt der Kopf gleich noch ein gutes Stück tiefer als zuvor zwischen den Schultern stecken. Nur nicht auffallen. Nur nichts sagen. Nur nichts tun, wofür man vielleicht die Verantwortung übernehmen müsste.

Inzwischen stehen wir vor dem Trümmerhaufen der Demokratie in Europa. Dazu, dass es so weit gekommen ist, haben wir mit unserem Schweigen maßgeblich beigetragen. Politik wird mittlerweile ganz offen über unsere Köpfe hinweg gemacht. Wir werden manipuliert, belogen und betrogen. Man kann das mit uns machen, weil wir uns dumm und verantwortungslos verhalten. Und weil jeder nun einmal nach seinen Taten beurteilt wird – nicht nach seinen Worten im stillen Kämmerlein.

Also verkauft man uns, den dummen, schweigenden Wählern, ganz ungeniert TTIP, CETA und TISA als Wirtschaftswunder, obwohl von vorn herein völlig klar ist, dass diese Wunder sich nur auf die Guthaben diverser großer Konzerne auswirken und dass das angebliche Wirtschaftswachstum selbst im günstigsten Falle kaum ins Gewicht fallen wird. Mexiko zum Beispiel hat nach der Unterzeichnung eines solchen Abkommens namens NAFTA mit den USA und Kanada leidvoll erfahren müssen, dass alles, was vorher schon im Argen lag, sogar noch viel schlimmer werden kann. Ein sprunghafter Anstieg der Arbeitslosenzahlen war die Folge.

Was werden die Politiker in Brüssel sagen, wenn es auch bei uns so weit ist? „Ups, wir haben uns wohl verrechnet, tut uns leid? Aber da wir schon mal dabei sind, wie wäre es mit einer leckeren Portion Sozialabbau für das Wahl- und Zahlvieh?“

Falls sie sich diesbezüglich überhaupt zu einem Kommentar herablassen, wird er vermutlich genau so lauten. Allerdings marketingtechnisch besser verpackt. Denn auch Niederlagen sind schließlich Siege, nicht wahr? Jedenfalls für jemand anderen. Und wir werden dann immer noch schweigend dastehen und brav hinnehmen, was man uns zuteilt. Denn mit uns kann man es ja machen. Wir sind ja Kummer gewöhnt. Wir sind ja gehorsam – und stolz darauf.

Wir sagen ja nichts. Wir tun ja nichts. Wir schweigen nur laut, während wir weiterhin brav unsere Stimmzettel ausfüllen und uns dann einreden, aktiv auf die Politik in unseren Kommunen und – Trommelwirbel und Fanfarenklang – ganz Europa Einfluss genommen zu haben. Unsere Pflicht uns und unseren Kindern gegenüber erfüllt zu haben.

An diesem Punkt stellt sich mir allerdings die Frage: Haben wir das? Haben wir das wirklich?

Ich denke, der Gang zur Wahlurne reicht nicht länger aus. Ich persönlich wähle mittlerweile beinahe jeden Tag. Und zwar mit meiner Brieftasche. Denn wenn ich mich dagegen entscheide, bestimmte Konzerne zu „unterstützen“, indem ich ihre Produkte konsumiere, wenn ich mich dafür entscheide, das Auto stehenzulassen, wenn ich örtliche Erzeuger unterstütze, mein Obst und Gemüse selbst anbaue oder es wie meine Eier direkt vom Bauern kaufe, dann bewirke ich etwas. Nur im Kleinen, sicher. Aber auch eine einzelne Stimme in einer Wahlurne ist schließlich nur ein winzig kleiner Beitrag zum Wahlergebnis. Und wenn jeder so handeln würde, wäre dies ein unübersehbares Statement, welches „die da oben“ nicht lange ignorieren könnten.

Ja, ich gehe am Sonntag zur Wahl und gebe meine Stimme einer Partei meines Vertrauens. Aber dabei bleibe ich nicht länger stehen. Ich lasse mein Wahlrecht, mein Mitspracherecht nicht länger auf einen einzigen Tag alle paar Jahre beschränken. Und ich wähle ganz bewusst die Möglichkeit, mich über mein Konsumverhalten weitestgehend von einer Politik zu distanzieren, die zwar in meinem Namen gemacht wird, aber nicht in meinem Sinne ist.

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Politik mit Migrationshintergrund

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Allein der Begriff „Ausländer“ entwickelt bei manchen einheimischen Zeitgenossen phenomenale Beißreflexe. Selbst finde ich es ausgesprochen charmant, wenn sich unsere integrationswilligen Mitbürger mit Migrationshintergrund aktiv an der politischen Auseinandersetzung beteiligen möchten.
Bislang konnte die Politik der etablierten Parteien in Deutschland nicht wirklich erfolgreiche Integrationspolitik durchsetzen. Im Gegenteil, durch die fortschreitende Globalisierung auf wirtschaftlicher Ebene droht die menschliche Komponente zunehmend zu verkümmern.
Umso bewundernswerter ist der Vorstoß eines kleinen Vereins aus dem Saarland, zu Kommunalwahlen anzutreten. Saarland für Alle nennt sich der Verein und besitzt ein deutlich multikulturelles Erscheinungsbild.

www.saarland-fuer-alle.de
Quelle: www.saarland-fuer-alle.de

In Zeiten, wo erzkonservative Mitglieder etablierter Parteien mit dem angeblichen Plündern der Sozialkassen durch Einwanderer auf Stimmenfang gehen oder laut über die Eindämmung der Flüchtlingsströme nachgedacht wird, sollte sich ein Land von überwiegend christlicher Prägung im Spiegel betrachten.

Zur Erinnerung: In Köln trifft am 10. September 1964 der millionste Gastarbeiter ein. Der Portugiese Armando Rodriguez erhält bei seiner Ankunft ein Moped als Geschenk.

Als man die Ausländer dringend brauchte, holte man sie gerne nach Deutschland. Dass diese Menschen ihre Heimat verließen und sich in Deutschland eine neue Existenz aufbauen mussten, darf man doch nicht ausblenden. Man schloss keine Zeitverträge, sondern Lebenszeitverträge. Inzwischen leben die Nachkommen jener Gastarbeiter in der 4. Generation in Deutschland, viele davon waren nie in der Heimat ihrer Vorfahren, können auch nicht deren Sprache und wurden hier als Deutsche geboren. Diese Menschen leben und arbeiten hier und zahlen ihre Steuern und partizipieren vollkommen legitim an unseren Sozialsystemen.

Auch die Befürchtungen, dass die seit dem 1. Januar 2014 geltende Arbeitnehmerfreizügigkeit laut EU- Gesetzgebung insbesondere Zuwanderern aus Rumänien und Bulgarien Zugang zu den deutschen Sozialsystemen verschaffen würde, ist falsch. Für Arbeitslosengeld und Sozialhilfe gelten Bedingungen nach deutschen Recht, wonach die Kommunen zu handeln haben. Migranten müssen demnach mindestens 5 Jahre in Deutschland wohnen und arbeiten, bevor sie ein Anrecht auf Sozialleistungen erhalten können.

Und schließlich gibt es noch jene Flüchtlinge, die aus Krisen- bzw. Kriegsgebieten in die Europäische Union strömen. Hier sollte man eher von einer Rettungsaktion reden, denn niemand verlässt seine Heimat, wenn es ihm dort einigermaßen gut geht. Soll man tatsächlich diese Menschen mittellos in ihre Herkunftsländer zurück schicken, wo sie Tod und Elend erwartet?

Nachdem hoffentlich klar geworden sein sollte, dass niemandem etwas von seiner Tafel Schokolade weggenommen wird, darf man bestenfalls darüber lamentieren, dass auch nicht jeder Migrant ein Engel ist. Das ist ja auch nicht jeder Deutsche. Es gelten in unserem Land Gesetze gleichermaßen für alle, die hier leben. Ob unser Justizsystem immer darauf vorbereitet ist, darf man ebenfalls anzweifeln. Wenn religiöse oder gar ganz persönliche Einflüsse zu Konflikten führen, muss man diese lösen. Hier sollte man womöglich längst überfällige Strategien anwenden, indem man gut integrierte Menschen mit Migrationshintergrund an bestimmten Schlüsselpositionen installiert. Gerade in Behörden könnte man hierdurch eine breitere Vertrauensbasis schaffen. Womöglich fühlen sich viele Mitbürger mit Migrationshintergrund politisch nicht vertreten und die Parteienlandschaft in Deutschland bietet keine Optionen an?

Saarland für Alle“ klingt beinahe wie ein Hilferuf. Der Wille nach Integration ist spürbar. Man will Vorurteile beseitigen und streckt die Hand aus, dass man sie doch ergreifen solle, um gesellschaftlich, kulturell und politisch ebenfalls jene Globalisierung erreichen zu können, wie es große Unternehmen auf wirtschaftlicher Ebene erfolgreich praktizieren. Und wie der Name es ausdrückt, soll hier kein Verein für Ausländer am Rande der Gesellschaft von außen durch Fenster in die beheizten Wohnungen der Deutschen blicken müssen, sondern gemeinsam eine Veränderung bewirkt werden.

Es ist ein Anfang, der eigentlich über die Grenzen des kleinen Saarlandes hinaus getragen werden sollte…

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Liebe Sophie Scholl – Gedanken zum Geburtstag einer mutigen Frau

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Liebe Sophie Scholl,

heute würdest Du Deinen 93. Geburtstag feiern. Du würdest ihn feiern in einem Land, das vom NS-Regime befreit, über lange Zeit geteilt und schließlich wieder vereinigt wurde, nachdem Hunderttausende friedlich dafür demonstrierten, nicht länger von ihren Verwandten getrennt in zwei verschiedenen Gesellschaftssystemen zu leben. Du würdest im Kreis Deiner Familie sitzen, Torte essen und über den gedeckten Kaffeetisch ein Lächeln mit Deinem Bruder Hans tauschen, der, selbst inzwischen 95 Jahre alt, eure Kinder und Enkelkinder mit stolzen, liebevollen Blicken betrachten würde.

Wenn man euch beide nicht schon als junge Menschen ermordet hätte.

Eure Kinder wurden nie geboren. Euer Leben wurde beendet, bevor es überhaupt richtig begonnen hatte. Was Ihr uns – statt Eurer Nachkommen – hinterlassen habt, ist Euer Vermächtnis.
Nie wieder Faschismus. Nie wieder Krieg.

Liebe Sophie, ich betrachte Deine Fotografie im Internet – eine Erfindung, die es zu Deiner Zeit überhaupt noch nicht gab – und grübele darüber nach, wie unterschiedlich die Zeiten sind, zu denen wir leben oder lebten. Und wie erschreckend gleich sie wieder zu werden drohen.

Wieder gibt es ein Land in Europa, in dem Faschisten einen Teil der Regierung stellen. Einen erschreckend großen Teil. Wieder fließt das Blut von Zivilisten, die sich diesem Regime nicht widerstandslos unterwerfen wollen. Und wieder droht ein Krieg, der ganze Länder verwüsten und Millionen von Opfern fordern würde. Ein Krieg, der die ganze Welt vernichten könnte, weil wir inzwischen nicht nur das besagte Internet erfunden haben, sondern auch über Massenvernichtungswaffen verfügen, die Hunderttausende auf einmal töten können.

Ja, Sophie, wir Menschen haben es weit gebracht in den letzten 71 Jahren. Unsere Technologien ermöglichen es uns, schneller zu produzieren, weiter zu reisen, das Weltall zu erforschen und uns gegenseitig auf unsagbar hohem Niveau zu ermorden. Es lebe der Fortschritt.

Aber in den Dingen, auf die es ankommt, sind wir offenbar stehen geblieben. Wir haben noch immer nicht gelernt, dass Kriege keine Probleme lösen. Wir haben noch immer nicht begriffen, dass Gewalt verwerflich ist und überragende militärische Stärke nicht damit gleichzusetzen ist, im Recht zu sein. Und im Augenblick habe ich Angst, dass uns keine Zeit mehr bleibt, diese Dinge zu lernen.

Ich bin halb so alt, wie Du jetzt wärst und mehr als doppelt so alt, wie Du werden durftest. Und ich frage mich, wie es sein kann, dass ein knapp 22jähriges Mädchen so viel mehr über das Leben, über Recht und Unrecht wusste, als es heute die meisten Menschen unseres Landes tun. Ich frage mich, was Du denken würdest, wenn Du uns in all unserer Gleichgültigkeit, unserer Bequemlichkeit und unserer Ignoranz erleben könntest. Was Du sagen würdest zu uns, die wir der drohenden Gefahr nicht geschlossen entgegentreten, sondern uns in kleinlichen Deutungsfragen zerfleischen, statt über den Tellerrand der eigenen Interessen hinaus einen Blick auf das Große Ganze zu werfen, aufzustehen und gemeinsam unsere Stimmen zu erheben.

Der Ruf wäre derselbe, wie das Vermächtnis, das Du uns hinterlassen hast: Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg.

Aber es gibt da ein paar Menschen, liebe Sophie, die verstanden haben. 30.000 von 80 Millionen. In den Augen mancher Leute mag das ein Witz sein. Aber angefangen hat alles noch viel kleiner. Ein Mann, ein Berliner, hat vor zwei Monaten einen Anfang gemacht. Er hat am Brandenburger Tor zu einer Mahnwache für den Frieden aufgerufen. Ganz allein. Und die Menschen kamen. In der ersten Woche waren es 100 Leute, in der zweiten 400 und in der dritten bereits 1.400. Jetzt, wenige Wochen später, gibt es die Mahnwachen für den Frieden in 53 Städten. Jeden Montagabend mit mittlerweile 30.000 Teilnehmern.

Niemand hilft diesen Menschen, ihre Proteste zu organisieren. Keine Partei steht hinter ihnen und unterstützt sie. Keine Organisation berät sie. Sie kommen zusammen, um gegen das neue faschistische Regime zu protestieren, das man mit Hilfe unserer eigenen Regierung in einem anderen Land installiert hat, und dagegen, wie es gewaltsam gegen seine Gegner unter der Zivilbevölkerung vorgeht. Sie machen Fehler und lernen daraus, sie unterstützen sich gegenseitig, sie reden miteinander, streiten miteinander, lachen miteinander, weinen miteinander. Und das, obwohl sie unterschiedlichen Ethnien, Religionen und Gesellschaftsschichten angehören.
Und was sie ganz sicher niemals tun werden, liebe Sophie, ist aufgeben.

Dein Kampf ist wieder aktuell geworden in unseren Tagen. Er ist jetzt ihr Kampf, unser Kampf. Und wir kämpfen ihn an Deiner Statt. Und einer Sache sind wir uns ganz sicher; wärst Du noch am Leben, so stündest Du – notfalls auf einen Stock oder den Arm eines jener Enkelkinder gestützt, die Dir nie vergönnt waren –, in unserer Mitte.

Liebe Sophie, neben meinem Laptop steht eine schmale blaue Vase mit einer einzelnen weißen Rose darin. Die Blume ist nur aus Plastik, denn es ist noch nicht die Zeit für Rosen. Aber wichtiger als ihre Beschaffenheit ist das, wofür sie steht. Sie ist ein Symbol. Ein Zeichen der Unbeugsamkeit, ein Zeichen des Kampfes, ein Zeichen der Hoffnung.

Wir sind Menschen. Wir sind fähig zu lernen. Aus unseren eigenen Fehlern, aber auch aus den Fehlern der Generationen vor uns. Wir sind fähig, über uns hinauszuwachsen. Wir sind fähig, den Bedrohungen des Faschismus zu trotzen. Wir sind fähig, unseren Nachbarn die Hände zu reichen und uns mit ihnen gegen das zu verbünden, was einstmals einen Teil der Welt zerstörte und viele Millionen Menschen das Leben kostete. Und wir sind fähig zu erkennen, dass nun die Zeit gekommen ist, genau das zu tun.

Liebe Sophie, ich habe Erfahrungen machen dürfen, die Dir niemals vergönnt waren. Ich habe drei Kinder im Arm halten und sie in Frieden aufwachsen sehen dürfen. Ich habe ein Enkelkind von vier Jahren, das gerade dabei ist, sich selbst und die Welt zu entdecken. Und ich werde alles, was in meiner Macht steht, dafür tun, jene, die ich liebe, vor einem Krieg zu bewahren. Das habe ich mit all den Teilnehmern der Mahnwachen für den Frieden gemein. Und das eint mehr, als eine gemeinsame Ethnie oder Religion es vermögen würde.

Heute, an Deinem Geburtstag, gedenke ich Deiner und all jener, die wie Du ihr Leben opferten um das vieler anderer zu retten. Heute streiche ich mit den Fingern über die weißen Blütenblätter einer Plastikrose und frage mich, ob ich den Mut hätte, so wie Du mein Leben einzusetzen, für das was richtig und notwendig ist. Ich möchte glauben, dass ich es könnte. Und gleichzeitig hoffe ich, dass es nie erforderlich sein wird. Dass die Menschheit weise genug ist, sich nicht selbst in einem sinnlosen Krieg zu vernichten. Ich bin Atheistin, daher ist mir das Gebet nicht gegeben. Mein Glaube ist der an die Menschen, nicht an Gott. Und auf ihnen ruht auch meine Hoffnung.

Und natürlich darauf, dass Dein Vermächtnis von ihnen nicht vergessen wird.

Ich sende Dir einen Gruß voller Liebe und Hochachtung.

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