Eine ganz persönliche Stellungnahme

Share Button

Liebe Freunde von Die Linke!

Die letzte Nacht war mal wieder eine jener Nächte, in denen ich kaum Schlaf fand, weil mir so unglaublich viele Dinge durch den Kopf gingen. Dinge, die ich selbst erlebt habe. Dinge, von denen ich gelesen habe, Dinge, die ich niemals erleben und über die ich auch niemals lesen will.

Mein Enkelkind wird morgen vier Jahre alt. Und …ich wünsche meiner Kleinen nur das Beste in ihrem Leben. Eine friedliche, liebevolle Kindheit. Eine glückliche, sorgenfreie Zukunft. Niemals soll sie mit Krieg konfrontiert werden, niemals um jemanden trauern müssen, den sie geliebt hat, und der ihr gewaltsam entrissen wurde. Das ist ihr Recht.
Und es ist meine Pflicht, alles dafür zu tun.

Gestern am späten Abend hatte ich hier auf Facebook eine Diskussion, die mich sehr betroffen gemacht hat. Ich habe mehrere Stunden über die Argumentation meines Diskussionspartners, den ich schon seit längerer Zeit sehr schätze, nachgegrübelt. Ich weiß nicht, ob ich mich ihm verständlich machen konnte. Und ich weiß auch nicht, ob ich jemals wieder die Gelegenheit bekommen werde, mich mit ihm auf freundschaftliche Weise auszutauschen. Das tut mir sehr leid, insbesondere, weil mir diese Diskussion klar gemacht hat, was gerade mit uns geschieht. Nein, falsch. Sie hat mir klargemacht, was wir einander gerade antun. Und zwar angesichts einer Entwicklung, die mir persönlich und vielen anderen auch große Sorgen macht.

Diese Entwicklung verläuft schleichend. Und sie spitzt sich immer mehr zu, erreicht ständig neue, nie dagewesene Höhepunkte – und kaum einer nimmt es überhaupt noch zur Kenntnis. Wir sind abgestumpft und so in unserer Routine, unseren persönlichen Sorgen und Nöten gefangen, dass wir kaum noch über den eigenen Tellerrand hinaussehen. Und wenn wir es doch tun, dann kommentieren wir kurz das Geschehen um uns herum, ziehen dann in bewährter Schildkrötenmanier wieder die Köpfe ein und beschäftigen uns weiter mit unserem eigenen Dasein. Weil das da draußen ja nicht uns persönlich betrifft.

Und wir werden blind für die Entwicklungen.

Beispiel gefällig?

Nixon musste zurücktreten, weil er ein verdammtes Hotelzimmer abgehört hatte. Heute bespitzeln die USA und ihre verbündeten Geheimdienste die ganze Welt. Ohne jegliche Konsequenzen befürchten zu müssen.

Noch ein Beispiel?

Kann sich noch jemand an den Aufschrei in den Medien und auch in der Bevölkerung erinnern, als es hieß, eine Firma mit vielen Filialen in Deutschland, die mit Schuhen handelt, verkaufe Produkte, die im Ausland in Kinderarbeit gefertigt würden? Wie unmoralisch es sei, davon zu profitieren? Diese Waren zu kaufen? Internationale Banken finanzieren weltweit Kriege und kassieren dafür Zinsen und Zinseszinsen. Sie verdienen am Tod unzähliger Menschen. Aber wer das thematisiert ist seit Neuestem ein Antisemit und Nazi.

Ich wähle seit Jahren Die Linke, weil ich mich mit deren Zielen am besten identifizieren kann. Nein zu Bundeswehr-Auslandseinsätzen. Nein zu den Abhöraktionen der Geheimdienste. Nein zu der immer weiter fortschreitenden Verarmung großer Teile der Bevölkerung. Ja dazu, große Vermögen und Einkommen stärker zur Finanzierung des Staatshaushaltes heranzuziehen. Nein zu Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus. Das sind meine Überzeugungen. Und dafür trete ich ein. Und dementsprechend wähle ich.

Aber das genügt nicht. Wo ist sie, die Protestbewegung der Linken? Wo war sie, als es um Libyen ging? Um Syrien? Wo sind die Demonstranten auf den Straßen gegen die Kämpfe in Afghanistan? Wo bleibt der Protest gegen die Vorgänge in der Ukraine? Wo ist Die Linke, wenn es darum geht, aktiv Einfluss auf das politische Geschehen in unserem Land zu nehmen? Als Opposition kann sie angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Bundestag gegen die GroKo nichts ausrichten. Also warum tut sie es nicht auf der Straße?

WO IST UNSERE LINKE, WENN ES DARUM GEHT, KLAR UND UNMISSVERSTÄNDLICH STELLUNG GEGEN EINEN DROHENDEN KRIEG ZU BEZIEHEN?

Wahlkampf in allen Ehren, liebe Genossen. Aber solange Ihr auf den Straßen keine deutlichere Präsenz zeigt, wird niemand Euch ernst genug nehmen, um sich mit Euren Zielen zu identifizieren und Euch zu unterstützen. Das habe ich in den letzten Wochen begriffen.

Ich verstehe, dass Ihr in Euren Wertvorstellungen und Eurem Gedankengut eine klare Grenze gegen nazistische Tendenzen ziehen wollt, auch wenn ich das wahllose Diskreditieren von Personen, die Ihr weder kennt noch wirklich einschätzen könnt, nicht nachvollziehen oder gutheißen kann. Aber das muss ich auch nicht. Alles, was ich tun muss, ist Euch und die von Euch gesetzten Grenzen zu akzeptieren. Das habe ich gestern Abend begriffen. Denn wenn ich Euch gegenüber diese Akzeptanz nicht an den Tag legen kann, darf ich sie auch nicht von Euch erwarten.

Und ich – und ich denke, das geht auch vielen anderen Teilnehmern der Mahnwachen für den Frieden so – möchte wirklich als das akzeptiert werden, was ich bin. Ein Mensch, der keiner Partei angehört. Ein Mensch, der keine parteipolitische Ideologie vertritt. Ein Mensch, der sich ganz klar von nazistischem und antisemitischem Gedankengut distanziert. Ein Mensch, der sich das Recht herausnimmt, sich eine eigene Meinung zu bilden und diese zu vertreten. Ein Mensch, der gemeinsam mit anderen Menschen aufsteht, seine Stimme erhebt und für das eintritt, was ihm wichtig ist: den Frieden. Ein Mensch, der es ablehnt, sich durch gleichgeschaltete Medien manipulieren und belügen zu lassen. Ein Mensch, der nicht länger tatenlos zuschauen will, wenn überall auf der Welt Kriege geführt werden, die unzählige Menschen das Leben kosten, und einige wenige immer reicher machen.

Das sind meine Ziele. Dafür stehe ich montags auf der Straße. Dafür stehe ich in meinen Postings und Artikeln. Dafür stehe ich mit meinem Namen, statt mich hinter einem niedlichen oder markigem Nick zu verstecken. Ich bin nicht politisch. Ich bin Mensch. Ich bin Großmutter, Mutter, Tochter, Enkelin. Ich habe Freunde und Familie. Und ich will niemanden von ihnen verlieren, damit ein anderer Mensch irgendwo auf diesem Planeten mit einem breiten, zufriedenen Grinsen seinen Bilanzen betrachten und seine Kontoauszüge prüfen kann.

Und jetzt komme ich zu meiner persönlichen, ultimativen Wahrheit: Wenn Ihr, liebe Linke, diese Montagsdemonstrationen auf die Beine gestellt hättet, wäre ich ebenfalls dabei. Und ich denke, auch das gilt für viele andere Teilnehmer dieser Veranstaltungen. Weil es unsere gemeinsamen Ziele sind, welche uns einen – nicht ein Parteiausweis oder die Mitgliedskarte eines Vereins. Ich stünde auch an Eurer Seite.
Sofern Ihr Euch denn endlich mal bewegen würdet!

Herr Gysi hat im Bundestag die Zusammenarbeit unserer Regierung mit der teilfaschistischen nicht demokratisch gewählten Regierung in Kiew scharf verurteilt. Herr Gysi hat die Reaktion unserer Regierung auf das Krim-Referendum verurteilt, indem er auf den Kosovo hinwies und darauf, dass man nicht mit zweierlei Maß messen dürfe. Die Linken stimmen im Bundestag gegen die Auslandseinsätze der Bundeswehr. Das alles verdient und bekommt meine Hochachtung – aber es genügt nicht.
Es genügt nicht länger, nur im Plenarsaal oder auf Wahlkampfveranstaltungen Stellung zu beziehen. Die Menschen, um die es letztendlich geht, sind in keinem Plenarsaal anzutreffen. Die sind hier draußen. Auf den Straßen. Auf den Plätzen. Sie demonstrieren. Sie fordern ihre Rechte ein. Sie sind nicht perfekt. Sie machen Fehler. Sie lernen daraus und voneinander. Sie halten zusammen – über die Grenzen von Ethnien, Religionen und Gesellschaftsschichten hinweg. Sie reden miteinander. Sie streiten miteinander. Sie lachen und weinen miteinander. Sie reichen einander die Hände und stehen füreinander ein, weil es das ist, was sie stark macht. Was UNS stark macht.

Ihr könntet ein wichtiger Teil dieser Bewegung sein. Ihr könntet Euch und Eure Vorstellungen von einer besseren, friedlicheren Welt einbringen. Niemand verlangt von Euch, dass Ihr Euch mit Nazis oder Antisemiten verbündet. Niemand will Eure Weltanschauung korrumpieren. Alles, was ich persönlich mir von Euch wünsche, ist die gleiche Akzeptanz, die auch ich Euch entgegenzubringen bereit bin. Und ich bin sicher, dass es den meisten anderen Teilnehmern an den Mahnwachen für den Frieden ebenso geht.

Wir sind eine breit gefächerte Masse, das stimmt. Es besteht also tatsächlich die Gefahr, plötzlich neben einem Menschen zu stehen, der nicht die gleichen Auffassungen vertritt, die ich selbst vertrete. Er sieht anders aus. Er hat andere Erfahrungen gemacht. Er denkt anders. Er glaubt an andere Dinge. Aber auch er ist ein Mensch, der in Frieden leben will, der nicht benutzt und belogen werden will, um schließlich zum finanziellen Nutzen eines anderen zu sterben oder zu töten.
Wenn mir seine Meinung nicht gefällt, dann trete ich ein paar Schritte vor oder zurück – es sind genug Menschen da, neben die ich mich stellen kann. Und wenn er faschistisches oder antisemitisches Gedankengut zu verbreiten oder anderweitig zu stören versucht, Nazi-Propaganda verbreitet oder Ähnliches, erteile ich ihm eine entschiedene Abfuhr und mache einen der Ordner oder Veranstalter auf ihn aufmerksam. (Allerdings ist mir das bisher noch nie passiert.)

Alles, was ich mir von Euch wünsche, ist dass Ihr Euch ein eigenes unvoreingenommenes Bild von den Vorgängen auf den Mahnwachen macht. Als friedliebende Menschen unter anderen friedliebenden Menschen. Denn ich kann nur über jemanden urteilen, den ich kenne – jedenfalls, wenn ich nicht unglaubwürdig erscheinen möchte.

Liebe Linke, eines noch zum Abschluss:
Ich nehme es Euch nicht übel, wenn Ihr es nicht über Euch bringt, über Euren Schatten zu springen und die Mahnwachen für den Frieden als Teilnehmer zu besuchen. Aber ich nehme Euch Eure Untätigkeit übel. Und in dieser Beziehung kann auch ich leider nicht über meinen eigenen Schatten springen. Die Welt steht am Abgrund. Europa wird von einem Krieg bedroht, der durchaus nukleare Ausmaße annehmen könnte. Und jeder, der sich nicht ganz klar dagegen ausspricht, macht sich mitschuldig. Wer schweigt, stimmt zu. Unterlassung ist Beihilfe. Also, verdammt noch mal, werdet endlich aktiv! Mit uns oder parallel dazu – was auch immer Euch angeraten erscheint. Aber bleibt nicht länger untätig, denn damit verurteilt Ihr auch all jene zur Untätigkeit, die befürchten, anderenfalls genau wie wir als Neu-Rechte diskreditiert zu werden.

Mein Enkelkind wird morgen vier Jahre alt. Was ist mit euren Kindern und Enkelkindern?

Share Button

Schreibe einen Kommentar